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Gute Bildung trotz ungleich verteilter Chancen

Interview mit Schulforscher Dr. Norbert Sendzik

Wir kommen nur weiter, wenn wir die mit viel Geld und Mühen angestoßenen Projekte und Programme auch auf ihre Wirkungen hin evaluieren. Ansonsten übersehen wir Erfolge und begehen im Zweifel immer wieder dieselben Fehler.

 

Talking Points

  • ressourcenbezogene Gestaltung kommunaler Bildungslandschaften
  • erweiterte Schulträgerschaft
  • Verwertungstypen sozialräumlicher Informationen
  • kommunale Gestaltungsspielräume
  • Kommunikation von Belastungslagen (Naming & Shaming)
  • Zusammenspiel Forschung und Praxis

Welche Mission leitet und begleitet Sie als Schulforscher, Herr Dr. Sendzik?

Mein Interesse für die Schul- und Bildungsforschung begann während meines sozialwissenschaftlichen Studiums in Göttingen mit dem PISA-Schock im Jahr 2001. Aufrüttelnd fand ich damals insbesondere das Missverhältnis zwischen dem vielfach verbreiteten deutschen Selbstverständnis, die Bildungsqualität in Deutschland sei im weltweiten Vergleich sehr hoch, und dem erschreckenden Befund der ersten PISA-Studie, dass gerade in Deutschland viele Jugendliche aus prekären familiären Verhältnissen nur unzureichend lesen und rechnen können. Das hat mich neugierig gemacht und ich frage mich seitdem, was wir dagegen tun können. Was mich dabei immer wieder verwundert ist die Tatsache, dass Deutschland auf der einen Seite zu einem der wohlhabendsten Ländern der Welt gehört und wir es dennoch auf der anderen Seite nicht schaffen, allen Kindern und Jugendlichen einen Aufstieg durch Bildung zu ermöglichen, obwohl es zumindest auf dem Papier genug gute Reformansätze gibt. Hier möchte ich mit dazu beitragen, dass wir für Deutschland besser als bislang verstehen, welche Reformansätze tatsächlich dazu geeignet sind, eine chancengerechtere Bildung gerade für Kinder und Jugendliche aus armen Nachbarschaften herzustellen. Wenn uns das nicht gelingt, ohne jetzt allzu alarmistisch klingen zu wollen, werden die gesellschaftlichen Spannungen weiter zunehmen. Wenn immer deutlicher wird, dass vor allem die Herkunft und weniger das Leistungspotential über den zukünftigen Lebensweg entscheidet, drohen große Teile der Gesellschaft sich von ihr abzuwenden.

Viele Reformansätze erscheinen in der Theorie vielversprechend, können sich in der Praxis jedoch als ungeeignet bei der Überwindung ungleich verteilter Chancen erweisen.

Dr. Norbert Sendzik

Schulforscher / Bildungsentscheidungen und -prozesse, Migration, Bildungsrenditen
Leibniz-Institut für Bildungsverläufe (LIfBi)
Wilhelmsplatz 3
96047 Bamberg

+49 951 863-3569 
norbert.sendzik@lifbi.de
 

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Trotz der Vielfalt an strukturellen Reformen und finanziellen Investitionen in die frühkindliche und schulische Bildung, ist das Bildungswesen an vielen Stellen immer noch ein Spiegel sozialer Ungleichheiten. Welche Begründungen liefert die Bildungsforschung für diesen Umstand?

Wenn Reformen und Investitionen nicht den gewünschten Erfolg zeigen, ist das natürlich politisch hochbrisant. Die deutsche Bildungsforschung bietet zu diesem Rätsel aus meiner Sicht aktuell vor allem drei ernstzunehmende Arbeitshypothesen an, die mal mehr und mal weniger empirisch gut ausgearbeitet sind, zusammen allerdings ein aufschlussreiches Bild ergeben. 

Erstens wird vorgebracht, dass soziale Ungleichheiten bereits vor dem Eintritt der Kinder in die Schule bestünden und vom Schulsystem kein bedeutender Abbau der Unterschiede zu erwarten sei. Diese Lesart richtet den Fokus insbesondere auf die immer noch verbesserungsbedürftige frühe institutionelle Förderung. Vor kurzem empfahl die Ständige Wissenschaftliche Kommission der Kultusministerkonferenz etwa folgende Ansatzpunkte zur Verringerung sozialer Unterschiede: ein einfacherer Zugang zu Angeboten der Familienbildung, ein weiterer Ausbau der frühkindlichen Bildung ab dem vollendeten ersten Lebensjahr sowie passgenauere Maßnahmen etwa im Fall der Diagnose eines zusätzlichen Förderbedarfs auch bei Nicht-Kita-Kindern. 

Zweitens gibt es im Diskurs den Erklärungsansatz, dass sich die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen verändert haben, etwa durch mehr geflüchtete Kinder und Jugendliche im Schulsystem. Diese Entwicklung kann den ausbleibenden Reformerfolg aber nur zum Teil erklären, was häufig untergeht. So zeigt etwa der aktuelle IQB-Bildungstrend, dass in Deutschland seit 2011 nicht nur für Viertklässler*innen mit Migrationshintergrund, sondern auch für Kinder ohne Zuwanderungsgeschichte die Kompetenzentwicklung in den Fächern Deutsch und Mathematik rückläufig ist. Vielmehr ist für beide Schülergruppen entscheidend, dass die Kinder mit gravierenden Lernrückständen vor allem aus finanzschwachen, anregungsärmeren Verhältnissen stammen. 

Drittens und zum Teil daran anschließend wird in der Bildungsforschung steuerungskritisch argumentiert, dass bei vielen der grundlegenden Reformen der letzten 20 Jahre im Schulbereich die Situation von sogenannten Schulen in sozial schwieriger Lage nicht ausreichend mitgedacht wurde.

Womit sehen sich Schulen in sozial schwieriger Lage konfrontiert?

Reformen, etwa zur Schulprofilbildung und erweiterten Eigenständigkeit von Schulen, aber auch Schulformreformen unter Beibehaltung des Gymnasiums, hätten – verkürzt dargestellt – eher den Wettbewerb zwischen den Schulen und weniger die Qualität insbesondere der Schulen gefördert, die in von Armut geprägten Wohngebieten angesiedelt sind. Diese Schulen und damit ihre Schüler*innen gingen vielfach als Verlierer aus der Entwicklung hervor und würden in eine Abwärtsspirale geraten. Etwa indem sich die Schulen aus verschiedenen Gründen kein anspruchsvolles Schulprofil geben können, was dazu führen kann, dass sie insbesondere von privilegierteren Eltern gemieden werden. 

Parallel und damit potentiell verbunden war in der letzten Dekade eine verstärkte soziale Segregation zwischen den Wohngebieten insbesondere großstädtischer Räume zu beobachten. Kinder und Jugendliche aus prekären familiären Verhältnissen bleiben dann in Bildungseinrichtungen eher unter sich, was für sie mit ungünstigen Lerngelegenheiten einhergehen kann. Der aktuell zu beobachtende Personalmangel verschärft die Situation dann noch mehr. So ist häufig an Schulen in sozial schwieriger Lage der Anteil an ausgefallenen oder fachfremd unterrichteten Unterrichtsstunden höher. Insgesamt betonen immer mehr Expert*innen aus Politik, Administration und Wissenschaft, dass es ein Fehler wäre, alle Hoffnungen nur auf Reformen im Bildungsbereich zu richten, um Bildungsungleichheiten abzubauen. Das würde das Bildungssystem überfordern. Es sind auch neue Ansätze in der Wohnungs- und Sozialpolitik gefragt.

Verlierer vergangener Schulreformen sind Schulen in prekärer Lage, die sowohl von priviligierteren Familien als auch Lehrkräften gemieden werden und dadurch mit Personalmangel und einem Mangel an sozialer Durchmischung zu kämpfen haben.

Über welche Handhabe verfügen Kommunen, um sozialräumliche Belastungslagen abzumildern?

Die Stärke von Kommunen liegt hier in der bereits angesprochenen passgenaueren Verknüpfung von Bildungs-, Sozial- und Wohnungspolitik; so zumindest in der Theorie. Hier gab es in den letzten 20 Jahren über Bundes- und Landesprogramme wie Lernende Regionen, Soziale Stadt, Lernen vor Ort, Bildungsregionen in Niedersachsen oder auch in Form des aktuellen Bundesprogramms Bildungskommunen sinnvolle Entwicklungen, die die kommunalen Bemühungen maßgeblich unterstützen. Auch wenn empirisch vielfach noch offen ist, ob die Programme tatsächlich dazu beitragen können, sozialräumliche Belastungslagen abzumildern und mehr Bildungschancen zu eröffnen. Auf jeden Fall erweitern die Programme, etwa über finanzielle Zuschüsse oder durch die Auslotung des rechtlichen Rahmens im Schulbereich in Form von Kooperationsvereinbarungen zwischen Ländern und Kommunen, das Handlungsrepertoire der Kommunen. Neue Strukturen bzw. deren Ausbau, wie etwa ein Bildungsmanagement sowie ein Sozial- und Bildungsmonitoring können dazu führen, dass mehr kleinräumige Informationen über sozialräumliche und bildungsbezogene Ungleichheiten vorliegen, die dann über eine bessere Ressortverzahnung zielgerichteter und bedarfsorientierter bearbeitet werden können. Dies kann z. B. in Form einer besser abgestimmten Schul- und Jugendhilfeplanung gelingen, die Bildungseinrichtungen in sozial schwieriger Lage mehr Ressourcen, etwa in Form von Schulsozialarbeit, zur Verfügung stellt. Hier gibt es mittlerweile zahlreiche Konzepte. Beispielsweise das Konzept der Familiengrundschulzentren in Nordrhein-Westfalen, welches den Ansatz einer besseren sozialräumlichen Vernetzung aus dem frühkindlichen Bereich auf den Schulbereich überträgt. So werden insbesondere an Schulen in sozial schwieriger Lage unter anderem systematische Beratungsangebote für Eltern implementiert bzw. weiter ausgebaut. Für den frühkindlichen Bereich konnte etwa eine Studie für Mülheim an der Ruhr zeigen, dass Kinder, die eine Kita mit angebundenem Familienzentrum besuchen, bessere Sprachkompetenzen aufweisen. 

Aber mit einer bedarfsorientierten Ressourcensteuerung reagiert Politik und Verwaltung im schlimmsten Fall nur kosmetisch oder symbolisch auf sozialräumliche Spaltungsprozesse, die eine wichtige Triebfeder für ungleiche Bildungschancen darstellen. Für Kommunen liegt der zentrale Ansatzpunkt in einer Wohnpolitik, die auf sozial besser durchmischte Wohngebiete abzielt; attraktive Bildungseinrichtungen sind dann ein Faktor neben anderen. Das Ziel wird auch von vielen Kommunen erkannt und angegangen, wie etwa im Schweriner Stadtteil Mueßer Holz, in der Berliner Gropiusstadt oder im Leipziger Stadtteil Grünau. Es umzusetzen ist allerdings nicht so einfach. So lassen sich unattraktive nur schwer in attraktive Wohnlagen umwandeln. Insbesondere dann, wenn der kommunale Haushalt dies aufgrund einer hohen Verschuldung nicht oder nur kaum zulässt, was vor allem auf Regionen mit einer hohen Armutsquote zutrifft. Im ungünstigsten Fall entsteht hier ein Teufelskreis, aus dem sich Kommunen ohne Unterstützung kaum eigenständig befreien können.

Ohne eine gerechte Wohnpolitik und Stadtteilarbeit kann der sozialräumlichen Spaltung trotz zusätzlicher Ressourcen für Schulen in schwieriger Lage nur schwer entgegengewirkt werden.

Welche Ansätze einer bedarfsorientierten Ressourcensteuerung gibt es in der Praxis und welche jeweiligen Voraussetzungen sind an sie geknüpft?

Unsere Recherchen und ersten Analysen aus unserem aktuellen BMBF-Forschungsprojekt AB-BAUBAR zeigen, dass in fast allen Bundesländern und auch schon in vielen Kommunen eine bedarfsorientierte Ressourcensteuerung im Schulbereich fest verankert ist. Dabei hat uns die Komplexität in der Praxis sehr überrascht; insbesondere was die Vielfalt an Ansätzen auf Landes- und kommunaler Ebene betrifft. Es zeigen sich sowohl Unterschiede bei den Ressourcenarten und der Art und Weise, wie die Mittel zugewiesen werden; zudem bestehen Unterschiede bei der Verwendung der Mittel durch die Schulen. So gibt es eine große Bandbreite an zusätzlich bereitgestellten Personal- und Sachmitteln sowie weiteren Unterstützungsmaßnahmen. Neben den häufig im Fokus stehenden zusätzlichen Lehrkräften ist der Stellenwert und die lange Tradition in der Zuweisung von zusätzlichen Schulsozialarbeiter*innen hervorzuheben. So werden etwa in München bereits seit 1993 Schulsozialarbeiter*innen an Mittel- und Förderschulen unter der Annahme zugewiesen, dass vor allem sozial benachteiligte Kinder und Jugendliche diese Schulformen besuchen. Seit 2002 fördert das Bayerische Staatsministerium für Familie, Arbeit und Soziales über die Jugendämter vor Ort die Jugendsozialarbeit an Schulen mit dem Ziel, sozial benachteiligte junge Menschen zu unterstützen. Und seit dem Schuljahr 2018/2019 stellt das Bayerische Staatsministerium für Unterricht und Kultus über die staatlichen Schulämter zusätzliche Schulsozialpädagog*innen bereit, die allerdings explizit alle Schüler*innen und nicht nur Kinder und Jugendlichen aus sozial benachteiligten Verhältnissen fördern sollen.

Unsere bisherigen Analysen zeigen zudem, dass die Mittelzuweisung entweder datenbasiert erfolgt, etwa auf Basis eines sogenannten Sozialindex, oder auf Basis der Einschätzung der zuständigen staatlichen und kommunalen Stellen. Es gibt auch die Variante, wo Schulen einen Antrag stellen müssen, was mitunter gerade für Schulen in sozial schwieriger Lage mit wenig Erfahrung in der projektbasierten Schulentwicklungsarbeit sowie wenigen zeitlichen Ressourcen eine enorme Herausforderung und zusätzliche Überforderung darstellen kann. Darüber hinaus unterscheiden sich die Ansätze dahingehend, dass Schulen die Mittel entweder zweckgebunden verwenden sollen, etwa zur Sprachförderung, wie an Hamburger Schulen. Oder sie können über die Mittel frei verfügen, wie etwa im Rahmen des Berliner BONUS-Programms.

Insgesamt stellen wir fest, dass in Teilen ein schwer zu durchdringendes Geflecht entsprechender Förderprogramme und Ansätze von unterschiedlichen Ressorts auf Landes- und Kommunalebene vorliegt. Aus meiner Sicht kann die bedarfsorientierte Ressourcensteuerung im Mehrebenensystem Vorteile mit sich bringen. Wenn etwa alle Ressorts und Ebenen ihre Stärken einbringen, können Mittel passgenau dahin fließen, wo sie gebraucht werden. Es können aber auch irritierende und ineffiziente Doppelstrukturen mit konzeptionellen Unschärfen entstehen.

Ob bestimmte Ausgestaltungen einer bedarfsorientierten Ressourcensteuerung letztlich wirkungsvoller als andere sind, lässt sich aktuell für Deutschland noch nicht sagen, da es an Evaluationsstudien fehlt. Derzeit haben wir nur empirische Hinweise, dass zusätzliche Lehrkräftestunden teilweise nicht die richtigen Schulen erreichen und die zusätzlichen Personalmittel zu gering ausfallen, um einen Unterschied zu machen. An dieser Forschungslücke setzen wir mit unserem Forschungsprojekt auch an und versuchen, einen Beitrag zu leisten. Mit Blick auf Befunde aus dem Ausland sind durchaus gemischte Erwartungen an die Folgen einer bedarfsorientierten Mittelzuweisung zu formulieren: Von positiven Effekten, wie einer moderaten Leistungssteigerung für Kinder und Jugendliche aus sozial benachteiligten Verhältnissen, bis hin zu negativen Effekten, wie einer Stigmatisierung von Schulen in sozial schwieriger Lage. Denn es besteht auch die Gefahr, dass eine öffentlich zugängliche datenbasierte Typisierung von Bildungseinrichtungen und Sozialräumen, Familien als Information dazu dient, diese Orte zu meiden, wodurch die soziale Spaltung sogar zunehmen kann. 

Auf jeden Fall ist das Thema einer bedarfsorientierten Ressourcensteuerung mit dem geplanten Startchancen-Programm der Ampelkoalition auf der großen politischen Bühne angekommen. Mindestens 4000 Schulen in sozial schwieriger Lage bundesweit sollen voraussichtlich ab dem Schuljahr 2024/2025 unter anderem zusätzliche Schulsozialarbeiter*innen und ein sogenanntes Chancenbudget erhalten. Es bleibt abzuwarten, wie sich dieses Förderprogramm in die komplexe Programmarchitektur einer bedarfsorientierten Ressourcensteuerung der Länder und Kommunen einreiht.

Es muss darauf geachtet werden, dass auf landes- und kommunaler Ebene unterschiedliche Ansätze der bedarfsorientierten Ressourcensteuerung nicht unverbunden nebeneinander stehen.

Insgesamt stellen wir fest, dass in Teilen ein schwer zu durchdringendes Geflecht entsprechender Förderprogramme und Ansätze von unterschiedlichen Ressorts auf Landes- und Kommunalebene vorliegt. Aus meiner Sicht kann die bedarfsorientierte Ressourcensteuerung im Mehrebenensystem Vorteile mit sich bringen. Wenn etwa alle Ressorts und Ebenen ihre Stärken einbringen, können Mittel passgenau dahin fließen, wo sie gebraucht werden. Es können aber auch irritierende und ineffiziente Doppelstrukturen mit konzeptionellen Unschärfen entstehen. 

Ob bestimmte Ausgestaltungen einer bedarfsorientierten Ressourcensteuerung letztlich wirkungsvoller als andere sind, lässt sich aktuell für Deutschland noch nicht sagen, da es an Evaluationsstudien fehlt. Derzeit haben wir nur empirische Hinweise, dass zusätzliche Lehrkräftestunden teilweise nicht die richtigen Schulen erreichen und die zusätzlichen Personalmittel zu gering ausfallen, um einen Unterschied zu machen. An dieser Forschungslücke setzen wir mit unserem Forschungsprojekt auch an und versuchen, einen Beitrag zu leisten. Mit Blick auf Befunde aus dem Ausland sind durchaus gemischte Erwartungen an die Folgen einer bedarfsorientierten Mittelzuweisung zu formulieren: Von positiven Effekten, wie einer moderaten Leistungssteigerung für Kinder und Jugendliche aus sozial benachteiligten Verhältnissen, bis hin zu negativen Effekten, wie einer Stigmatisierung von Schulen in sozial schwieriger Lage. Denn es besteht auch die Gefahr, dass eine öffentlich zugängliche datenbasierte Typisierung von Bildungseinrichtungen und Sozialräumen, Familien als Information dazu dient, diese Orte zu meiden, wodurch die soziale Spaltung sogar zunehmen kann. 

Auf jeden Fall ist das Thema einer bedarfsorientierten Ressourcensteuerung mit dem geplanten Startchancen-Programm der Ampelkoalition auf der großen politischen Bühne angekommen. Mindestens 4000 Schulen in sozial schwieriger Lage bundesweit sollen voraussichtlich ab dem Schuljahr 2024/2025 unter anderem zusätzliche Schulsozialarbeiter*innen und ein sogenanntes Chancenbudget erhalten. Es bleibt abzuwarten, wie sich dieses Förderprogramm in die komplexe Programmarchitektur einer bedarfsorientierten Ressourcensteuerung der Länder und Kommunen einreiht.

Neben positiven Effekten kann eine bedarfsgerechte Mittelzuweisung auch ungewollte Konsequenzen wie die Stigmatisierung von Schulen in herausfordernder Lage haben, wodurch die soziale Spaltung der Schülerschaft und letzlich der Gesellschaft zunimmt.

Was können Wissenschaft und (kommunale) Bildungssteuerung voneinander lernen, um auf eine chancengerechtere Bildung hinzuwirken? 

Ich beobachte hierzu einen regen Austausch und ein hohes Interesse voneinander zu lernen. Wenn ich mit Personen aus der kommunalen Politik und Verwaltung zu dem Thema spreche, kommen schnell immer wieder zwei Punkte auf: Erstens, wie können wir hier vor Ort eigentlich eine chancengerechtere Bildung definieren. Und zweitens, was wissen wir denn nun über die Wirkungen von bestimmten Programmen oder Ideen, die so auch hier vor Ort funktionieren können? Ich denke hier kann die Wissenschaft durch neue Erkenntnisse und auch durch neue methodische Ansätze sowohl beratend zur Seite stehen als auch dabei helfen, gewünschte und unerwünschte Folgen von Reformen herauszuarbeiten. Soweit das mit den vorhandenen und der Wissenschaft zur Verfügungen stehenden Daten möglich ist. Denn wir kommen nur weiter, wenn wir die mit viel Geld und Mühen angestoßenen Projekte und Programme auch auf ihre Wirkungen hin evaluieren. Ansonsten übersehen wir Erfolge und begehen im Zweifel immer wieder dieselben Fehler; und zwar – und das ist die Tragik dabei – ohne es zu wissen.

Um zu ergründen, welche Maßnahmen wie und warum wirken und somit Reformen für eine chancengerechtere Bildung fundiert und zielgerichtet umsetzen zu können, braucht es beides: das Know-How aus der Wissenschaft und aus der kommunalen Praxis.

Von der Politik und Verwaltung kann Wissenschaft vor allem lernen, sich von einfachen Annahmen und Modellen zu verabschieden. Denn es zeigt sich immer wieder, wie komplex Reformprozesse sind und von welchen zahlreichen Zwängen sie begleitet werden. Das ist für Teile der Bildungsforschung, insbesondere für jene, die sich eine Expertise in der Wirkungsforschung auf die Fahnen schreibt, häufig eine Blackbox und Ergebnisse können zum Teil nicht sinnvoll interpretiert werden. Nur politisches und administratives Prozesswissen kann dabei helfen, erfolgversprechende Maßnahmen unter realistischen Annahmen auf andere Kommunen zu übertragen. Zudem kann die Bildungsforschung viel vom Sozial- und Bildungsmonitoring der Kommunen und insbesondere von den Möglichkeiten einer kleinräumigen Aufbereitung und Visualisierung von relevanten Daten lernen. Hier sehe ich viel Potential für eine Zusammenarbeit, da damit eine erste, teilweise durch weitere zu Erhebungen zu ergänzende Grundlage etwa für die Analyse von individuellen raumbezogenen Bildungsverläufen existiert. So wissen wir trotz der vorliegenden Befunde immer noch viel zu wenig darüber, wie etwa Wohn-, Schul- und außerschulische Lernorte zusammenhängen – und was diese Zusammenhänge für den Bildungserfolg und den Lebensweg von Kindern und Jugendlichen bedeuten können.

 

Vielen Dank für das interessante Gespräch, Herr Dr. Sendzik!


Anna Hinzen

Wissenschaftliche Mitarbeiterin

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Dieses Vorhaben wird aus Mitteln des Bundesministeriums für Bildung und Forschung gefördert.