Mikrokosmos schulischer Nahraum: Sozialraumanalyse mit der ALSO-App
Landkreise und kreisfreie Städte tragen maßgeblich dazu bei, allen Kindern und Jugendlichen faire Bildungschancen zu gewähren, indem sie sozialstrukturelle Unterschiede kleinräumig analysieren und mit gezielten Unterstützungsmaßnahmen darauf reagieren. Um insbesondere Schulen als zentrale Ankerpunkte im Sozialraum wirksam zu unterstützen, müssen kleinräumige Daten zum Sozialraum mit Informationen aus der Einzelschule verknüpft werden. Dr. Matthias Forell und Jakob Schuchardt haben gemeinsam mit Jörn-Michael Richter und in Zusammenarbeit mit Prof. Dr. Gabriele Bellenberg und Prof. Dr. Jörg-Peter Schräpler (alle Ruhr-Universität Bochum) im Rahmen der Bund-Länder-Initiative "Schule macht stark" eine Webanwendung entwickelt, die den schulischen Sozialraum in seiner Vielschichtigkeit datengestützt beschreibt und anschaulich abbildet. “ALSO”, Außerunterrichtliches Lernen und Sozialraumorientierung, ist dabei ebenso der Titel des Inhaltsclusters im Förderprogramm “Schule macht stark” wie auch der App, die im Kontext der Schulbegleitung entwickelt wurde.
Im KOSMO-Interview stellen Sie die ALSO-App, die bisher vor allem von Schulen genutzt wird, vor und sprechen über Anwendungsmöglichkeiten für Kommunen zur datengestützten Gestaltung schulischer und außerschulischer Lerngelegenheiten.
Welche Bedeutung hat der schulische Sozialraum für die Gestaltung guter Lern- und Bildungschancen und wie kam es zu der Idee, die ALSO-App zu entwickeln?
Schulen sind keine isolierten Orte des Lernens, sondern eingebettet in ein vielschichtiges Sozialraumgefüge, das maßgeblich die Lern- und Bildungschancen von Kindern und Jugendlichen beeinflusst. Vor diesem Hintergrund betrachten wir die Schule als Sozialraum im Sozialraum, die sowohl von physisch-materiellen, sozialdemografischen als auch handlungsbezogenen Standortbedingungen geprägt ist. Eine sozialraumorientierte Perspektive auf Schulentwicklung bedeutet daher, den Blick nicht nur auf die Schule selbst zu richten, sondern auch ihre lokale Einbettung in das soziale Umfeld zu betrachten. Dies erfordert ein dreigeteiltes Verständnis des schulischen Sozialraums:
Darüber hinaus gehört zu den Strukturbedingungen des deutschen Schulsystems, dass neben individuellen und strukturellen Herkunftseffekten auch kollektive Kontextfaktoren auf der Ebene der Lerngruppe, der Einzelschule sowie ihres Umfeldes maßgeblich für Bildungschancen sind. Zusammengeführt münden sie in unterschiedliche Lern- und Entwicklungsmilieus an Schulen, die sich in gut oder schlecht situierten Lagen abbilden lassen.
Daraus resultierte die Idee, eine App zu entwickeln, die Schulen dabei unterstützt, ihren Sozialraum datenbasiert zu analysieren und gezielt in ihre Schulentwicklungsprozesse einzubeziehen. Die ALSO-App bietet einen multiperspektivischen Überblick über herkunftsbezogene Merkmale der Schüler*innenschaft und ermöglicht den Schulen, interaktive Karten ihres Einzugsgebietes zu erstellen.
Ziel der Anwendung ist es, schulische wie außerschulische Akteur*innen für die Lebensrealitäten der Schüler*innen zu sensibilisieren und Schulen zugleich als regional und lokal vernetzte Bildungsakteur*innen zu stärken. Damit liefert die App wertvolle Impulse für eine sozialraumorientierte Schulentwicklung, die sich an den standortspezifischen Rahmenbedingungen sowie den Interessen- und Bedarfslagen vor Ort orientiert. Darüber hinaus können Schulen bestehende und potenzielle Kooperationspartnerschaften in der Kartenansicht verorten, um Netzwerke strategisch auszubauen. Damit wird nicht nur die sozialraumbezogene Schulentwicklungskapazität gestärkt, sondern auch eine gezielte und ressourcenorientierte Bildungssteuerung auf kommunaler Ebene ermöglicht.
Welche Rolle spielen Landkreise und kreisfreie Städte in der sozialräumlich orientierten Schulentwicklung und welche Informationen benötigen Kommunen, um diese Rolle auszufüllen?
Landkreise und kreisfreie Städte übernehmen eine zentrale Funktion in der sozialräumlich orientierten Schulentwicklung, je nach landesrechtlichen Vorgaben und Schulart als Schulträger. Darüber hinaus sind Kommunen verantwortlich für die Vernetzung und Koordinierung schulischer und außerschulischer Akteur*innen und Bildungsangebote sowie für die Bereitstellung von Unterstützungsstrukturen, insbesondere im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe oder des Übergangsmanagements. Besonders kommunale Bildungsbüros spielen hierbei eine Schlüsselrolle, da sie Steuerungswissen über regionale Bildungslandschaften bündeln und die Vernetzung relevanter Akteur*innen gezielt vorantreiben.
Obwohl Kommunen über zahlreiche Steuerungsinstrumente verfügen, fehlt es ihnen nicht selten an differenzierten kleinräumigen Daten, die über großflächig aggregierte statistische Kennzahlen hinausgehen. Wichtige Informationen z. B. zur sozialdemografischen Zusammensetzung der Schüler*innenschaft – etwa zu Segregationseffekten und deren Auswirkungen auf den schulischen Sozialraum – liegen nicht immer in der nötigen Detailtiefe vor. Darüber hinaus fehlt es oft an einer systematischen Übersicht über bestehende und potenzielle Vernetzungsstrukturen zwischen Schulen und außerschulischen Kooperationspartner*innen. Dabei könnte eine verbesserte Datenlage nicht nur die kommunale Bildungssteuerung gezielter ausrichten, sondern auch eine nachhaltigere Schulentwicklung ermöglichen. Eine stärkere Verzahnung von Bildungs- und Sozialdaten sowie eine tragfähige Vernetzung der relevanten Akteure würde dazu beitragen, sozialräumliche Ressourcen gezielter zu aktivieren und Bildungsungleichheiten zielgerichtet entgegenzuwirken.
Wie kann die ALSO-App Kommunen dabei unterstützen, Leerstellen in der Bildungsplanung zu schließen?
Eine zentrale Herausforderung in der kommunalen Bildungsplanung ist die uneinheitliche Datenlage: Während einige Städte, wie z. B. Hamburg, über eine detaillierte und kleinräumige Datengrundlage verfügen, haben insbesondere ländliche Kommunen oder Landkreise oft nur großflächige oder unzureichend differenzierte Daten zur Verfügung, insbesondere wenn sie keine eigene abgeschottete Statistikstelle haben. Die ALSO-App kann hier eine wertvolle Ergänzung sein, indem sie eine hypothetisch deutschlandweit einheitliche, vergleichbare und kleinräumige Datenbasis zur Verfügung stellt.
Die Anwendung kann dazu verwendet werden, bereits vorhandene Daten anschaulich zu visualisieren und zugänglich zu machen. In Kommunen ohne Statistikstelle oder mit nur geringfügig verfügbaren Daten kann sie als Grundlage für eine detailliertere Sozialplanung, ein vertieftes Bildungsmonitoring oder ergänzend in der Schulentwicklungsplanung dienlich sein. Durch die Bereitstellung kleinräumiger Daten mit einer breiten Palette an Variablen ergänzt die App bestehende amtliche, halbamtliche und kommunale Daten und kann somit zur fundierten Entscheidungsfindung in der Bildungsplanung beitragen.
Diese Zusammenführung von Daten bietet Akteur*innen aus Schule, Verwaltung und Sozialraum eine objektive Gesprächsbasis zur Diskussion über Handlungsoptionen für die Schulstandortentwicklung zum Beispiel in Bezug auf den Ganztagsausbau oder die Umsetzung von Projekten zu Themen wie Demokratiebildung oder Bildung für nachhaltige Entwicklung.
Die Sozialraumkarten bilden sogenannte Schlüsselindikatoren und einen multiplen Benachteiligungsindex ab. Welche Aussagen können mit diesen Kennzahlen bzw. dem Index getroffen werden?
Über die Sozialraumkarten der ALSO-App können verschiedene Schlüsselindikatoren und ein multipler Benachteiligungsindex abgebildet werden. Die Auswahl der Schlüsselindikatoren orientiert sich an zentralen Dimensionen der Bildungsbenachteiligung wie sozioökonomische, schulbildungsbezogene und herkunftssprachliche Risikolagen in den Familien. Ziel ist es, einen fundierten und ganzheitlichen Blick auf den Sozialraum zu ermöglichen und Schulen sowie weiterführend auch Kommunen eine datenbasierte Grundlage für Handlungsbedarfe und -optionen zu bieten.
Die Schlüsselindikatoren umfassen:
- Arbeitslosenquote (als Anteil an der Bevölkerung)
- durchschnittliche Nettokaufkraft pro Einwohner im Jahr
- Abiturquote (Anteil der Haushalte mit Abitur)
- Quote an Personen ohne bzw. mit nicht anerkanntem Schulabschluss
(als Anteil an Haushalten) - Anteil an Personen mit nicht-deutscher Familiensprache
(basierend auf Verfahren der Namenskunde).
Diese Indikatoren liegen auf der kleinräumigen PLZ8-Ebene vor – einer von microm entwickelten, fein untergliederten Version der deutschen Postleitzahlen. Die PLZ8 basiert auf den 5-stelligen Postleitzahlen und unterteilt diese in homogene, räumlich präzise Einheiten mit durchschnittlich etwa 500 Haushalten bizw. 1.000 Einwohner*innen. Die Abgrenzung erfolgt dabei sowohl auf postleitzahl- als auch auf gemeindescharfer Ebene. Insgesamt existieren rund 83.000 dieser PLZ8-Gebiete.
Während die Betrachtung der einzelnen Schlüsselindikatoren dabei helfen kann, spezifische soziale Herausforderungen, wie z. B. die Verteilung der Arbeitslosigkeit, zu identifizieren, erlaubt der multiple Benachteiligungsindex eine multivariate Betrachtung. Hierbei werden nach Vorbild des ‚Index of Multiple Deprivation‘ aus Großbritannien mehrere Schlüsselindikatoren kombiniert und gewichtet, um zu bestimmen, welche Gebiete einer Stadt oder Region im Verhältnis zum Gesamtgebiet besonders benachteiligt sind. Dies erleichtert es, besonders herausgeforderte Gebiete und Sozialräume auf einen Blick zu erkennen und Maßnahmen gezielt zu entwickeln, sodass ungleiches auch ungleich behandelt werden kann.
Perspektivisch werden die Analysen und verfügbaren Darstellungen weiter ausgebaut, z. B. ist die Berechnung eines Fragmentierungsindex geplant, der darstellt, wie divers einzelne Sozialräume zusammengesetzt, also wie stark oder schwach sie fragmentiert sind – etwa durch eine Vielzahl verschiedener Herkunfts- und Familiensprachen.
Zusätzlich sind weitere sozioökonomische Daten verfügbar, die in der Zusammenarbeit mit Schulen bisher weniger eine Rolle gespielt haben, insbesondere für kommunale Planungsprozesse aber relevant sein könnten. Hierzu zählen z. B. verschiedene weitere Variablen zur Kaufkraft, die Anzahl der Haushalte und Einwohner*innen, die Anzahl der Kinder, das Alter der dort lebenden Personen oder der in einem Gebiet vorherrschende Haustyp.
Woher beziehen Sie die Daten und welche Kosten sind damit verbunden?
Wir beziehen unsere Daten von der der microm Micromarketing-Systeme und Consult GmbH, einem Anbieter kleinräumiger Daten und Analysen mit Sitz in Neuss. Das Unternehmen stellt sozialstrukturelle, demografische und wirtschaftliche Kennzahlen bereit, die für verschiedene analytische Anwendungen genutzt werden. Microm aggregiert und verarbeitet Daten aus amtlichen Quellen, eigenen Erhebungen sowie anderen kostenpflichtigen Datenbeständen und ermöglicht damit eine detaillierte kleinräumige Segmentierung. Neben privatwirtschaftlichen Anwendungen arbeitet microm auch mit öffentlichen Institutionen und wissenschaftlichen Einrichtungen zusammen und bietet sowohl standardisierte als auch individuell zugeschnittene Datenlösungen an. Durch die Kombination von soziodemografischen, ökonomischen und geodatenbasierten Informationen ermöglicht microm die Analyse und Modellierung räumlicher Strukturen. Die Microm-Daten werden als fertige Layer für gängige Geoinformationssysteme (GIS) angeboten. Dies erleichtert die Integration in Kartenanwendungen und statistische Modelle, die – wie in unserem Fall – beispielsweise mit Statistikprogrammen wie R ausgelesen und weiterverarbeitet werden können.
Ein zentraler Aspekt bei der Nutzung kleinräumiger Sozialraumdaten ist ihre Qualität und Vergleichbarkeit. Die von microm bereitgestellten Daten zeichnen sich durch eine hohe Passgenauigkeit im Abgleich mit amtlichen Quellen aus. Dies zeigt sich bspw. in einem von uns durchgeführten Vergleich mit amtlichen statistischen Daten der Stadt Dortmund (siehe Infobox “Datenqualität: Abgleich mit amtlichen Daten”). Daraus wird deutlich, dass die microm-Daten die sozialstrukturellen Merkmale der einzelnen Stadtgebiete konsistent abbilden. Diese hohe Datenqualität ist eine entscheidende Grundlage für analytische Anwendungen, da sie robuste und belastbare Aussagen ermöglicht.
Da die App auf der Open-Source-Software R und einer Vielzahl frei zugänglicher Pakete basiert, besteht grundsätzlich die Möglichkeit, eigene Daten aus Kommunen oder Ländern in die App zu integrieren. Dies erlaubt eine noch passgenauere sozialräumliche Analyse auf Basis lokaler Erhebungen. Die Einbindung externer Daten setzt allerdings eine entsprechende Aufbereitung und Einspeisung durch die Entwickler der App voraus, um eine nahtlose Integration in die bestehende Datenstruktur der App zu gewährleisten.
Zur Kostenstruktur lässt sich Folgendes sagen: Die Nutzung der App ist grundsätzlich kostenfrei. Je nach Bedarf fallen für die Abfrage und Bereitstellung von Daten Kosten im vertretbaren Rahmen (mittlerer dreistelliger Betrag pro Standort) an, die sich je nach Umfang der Variablen, dem Radius der Abfrage und der Anzahl der einbezogenen Standorte zusammensetzen.
Unter welchen Bedingungen können Kommunen die App nutzen?
Die Anwendung kann in jedem Webbrowser abgerufen werden. Sie läuft über einen in Deutschland stationierten Server und wird von der Ruhr-Universität Bochum verwaltet. Der Zugang erfolgt passwortgeschützt, sodass Kommunen ausschließlich auf ihren eigenen Datenbereich zugreifen können. Alle Funktionen und Teilbereiche der App werden zudem an den entsprechenden Stellen erläutert.
In der App werden ausschließlich aggregierte Daten verarbeitet, beispielsweise auf PLZ8-, Stadtteil- oder Bezirksebene und mit interaktiven Karten visualisiert. Individualdaten, die Rückschlüsse auf einzelne Personen zulassen könnten, werden nicht verwendet, eine abgeschottete Statistikstelle oder besondere Datenschutzprüfungen sind daher nicht erforderlich.
Darüber hinaus wird die App auch im Rahmen des Startchancen-Programms weiterentwickelt und bleibt daher mindestens bis 2034 nutzbar.
Ansprechpartnerinnen

Annika Kuchta
Wissenschaftliche Mitarbeiterin

Anna Hinzen
Wissenschaftliche Mitarbeiterin
Standort Potsdam
kobra.net, Kooperation in Brandenburg, gemeinnützige GmbH
Benzstr. 8/9, 14482 Potsdam
Ansprechpartner:
Tim Siepke, Leitung
0331 / 2378 5331
info@kommunales-bildungsmonitoring.de
Standort Trier
Kommunales Bildungsmanagement Rheinland-Pfalz - Saarland e.V.
Domfreihof 1a | 54290 Trier
Ansprechpartner:
Dr. Tobias Vetterle, Leitung
0651 / 4627 8443
info@kommunales-bildungsmonitoring.de
Dieses Vorhaben wird aus Mitteln des Bundesministeriums für Bildung und Forschung gefördert.